Kita Handbuch

In jedem Fall verantwortlich? Zur Aufsichtspflicht in der Kita und im Kindergarten

Martin R. Textor 

 

Kaum ein Bereich ihrer Arbeit macht Erzieherinnen so viel Angst wie derjenige der Aufsichtsführung - obwohl es in ganz Deutschland wohl keine Fachkraft geben dürfte, die wegen einer Aufsichtspflichtverletzung eine längere Haftstrafe verbüßt. Dieser Angst liegt eine durchaus verständliche Unsicherheit zugrunde. Sie rührt daher, dass das Gesetz zwar die zivil-, straf- und arbeitsrechtlichen Folgen der Aufsichtspflichtverletzung herausstellt, Inhalt und Umfang der Aufsichtspflicht aber noch nicht einmal annähernd umreißt. Der Grund hierfür liegt darin, dass die letztlich unendliche Zahl möglicher Vorkommnisse und Konstellationen im Einzelfall es unmöglich machen, Kriterien einer ausreichenden Aufsicht gesetzlich festzulegen. Grobe Maßstäbe können aber aus den vielen Gerichtsentscheidungen erschlossen werden, die sich natürlich immer auf konkrete Einzelfälle bezogen haben. Die folgenden Aussagen können somit nur als solch grobe Richtlinien verstanden werden; maßgeblich sind immer die besonderen Umstände der jeweiligen Situation, in der sich eine Aufsichtspflichtige befindet.

Gesetzliche und vertragliche Aufsichtspflicht

Die Aufsichtspflicht ist nach § 1631 Abs. 1 BGB (= Bürgerliches Gesetzbuch) Teil der Personensorge. Laut Gesetz liegt sie somit bei den Personensorgeberechtigten, also in der Regel bei den Eltern. Melden diese ihr Kind im Kindergarten an, so übernimmt der Träger durch den Aufnahmevertrag ausdrücklich oder stillschweigend auch die Aufsichtspflicht über das Kind. Da er die Aufsichtspflicht nicht selbst ausüben kann, überträgt er sie ausdrücklich oder stillschweigend auf die Kindergartenleiterin und das übrige Personal. Zu seinen Pflichten gehört es, seine Mitarbeiterinnen sorgfältig auszuwählen, ihre Eignung zu prüfen, ihre Einarbeitung sicherzustellen, wichtige Informationen an sie weiterzugeben und sie nicht zu überfordern.

§ 1631 Abs. 1 BGB

Die Personensorge umfasst insbesondere das Recht und die Pflicht, das Kind zu pflegen, zu erziehen, zu beaufsichtigen und seinen Aufenthalt zu bestimmen.

Die vertragliche Aufsichtspflicht liegt somit beim Kindergartenträger. Die sozialpädagogische Fachkraft ist aufgrund ihres Arbeitsvertrages "Erfüllungsgehilfin" des Trägers und ist deshalb verpflichtet, die Aufsicht über die ihr anvertrauten Kinder zu übernehmen. Der Kindergartenleiterin kommt in diesem Kontext eine besondere Bedeutung zu, da sie als Vorgesetzte z.B. verpflichtet ist, neu eingestellte Mitarbeiterinnen in die Aufsichtsführung einzuweisen sowie generell ihr Personal auf Gefahren aufmerksam zu machen, beratend und unterstützend hinsichtlich der Aufsichtsführung zu wirken und bei Pflichtverletzungen einzugreifen.

Was umfasst nun die den sozialpädagogischen Fachkräften übertragene Aufsichtspflicht? Zunächst einmal muss festgehalten werden, dass sie weitgehend derjenigen der Eltern entspricht, da sie ja von diesen dem Kindergarten übertragen wurde. Ansonsten wird immer wieder auf folgende Formel des Bundesgerichtshofes zurückgegriffen: "Entscheidend ist, was verständige Eltern (oder Erzieher, oder Betreuer) nach vernünftigen Anforderungen unternehmen müssen, um die Schädigung Dritter durch ihr Kind (oder des Kindes selbst, Anm. des Autoren) zu verhindern. Dabei kommt es für die Haftung nach § 832 BGB stets darauf an, ob der Aufsichtspflicht nach den besonderen Gegebenheiten des konkreten Falles genügt worden ist" (zitiert nach Münder 1991, S. 92). In dieser Formel wird also betont, dass Art und Ausmaß der Aufsichtspflicht immer von den jeweils gegebenen Umständen abhängen, dass die Anforderungen an die sozialpädagogischen Fachkräfte nicht übertrieben sein dürfen und dass diese ihren Verstand zur Ermittlung der in der konkreten Situation notwendigen Aufsicht einsetzen müssen. Dabei sind sowohl die pädagogischen Ziele des Kindergartens als auch das Wohl der Kinder und Dritter zu berücksichtigen. Hundmeyer (1995 a) leitet daraus folgenden Grundsatz ab: "Was pädagogisch nachvollziehbar begründet ist (d.h. von den Erziehungszielen her gerechtfertigt ist und zugleich die Sicherheitsinteressen des Kindes und anderer mit berücksichtigt), kann keine Aufsichtspflichtverletzung sein" (S. 10).

Kriterien für die Aufsichtspflicht

Welche "besonderen Gegebenheiten" müssen Erzieherinnen nun in der jeweiligen Situation berücksichtigen? Was sind denn "vernünftige Anforderungen"? In der Regel ist Folgendes zu beachten:

(1) Alter der zu betreuenden Kinder: Offensichtlich ist, dass jüngere Kinder mehr Aufsicht benötigen als ältere, da sie viele Gefahren noch nicht kennen, oft unberechenbar handeln und die Folgen ihres Verhaltens häufig nicht abschätzen können.

(2) Person des jeweiligen Kindes: Wichtiger als das Alter sind der körperliche, kognitive, emotionale und soziale Entwicklungsstand des Kindes und die mit ihm gemachten Erfahrungen. Das bedeutet beispielsweise,

  • dass sich die Erzieherin bei der Aufnahme eines Kindes über eventuelle Behinderungen, Gesundheitsschäden, Allergien und andere Risiken informieren bzw. von den Eltern darüber unterrichtet werden muss,
  • dass sie ihr unbekannte oder noch wenig bekannte Kinder (Neuaufnahmen) mehr im Auge behalten muss als Kinder, deren Verhalten sie aufgrund ihrer Vorerfahrungen mit ihnen gut abschätzen kann,
  • dass sie einen unreifen, entwicklungsverzögerten Fünfjährigen mehr beaufsichtigen muss als ein gleichaltriges, aber sehr selbständiges oder sehr gehorsames Kind.

Erhöhte Anforderungen an die Aufsichtspflicht sind auch zu stellen, wenn ein Kind z.B. zu aggressivem Verhalten neigt oder die eigenen Fähigkeiten sehr überschätzt.

(3) Art der Tätigkeit bzw. Beschäftigung: Offensichtlich ist, dass Kleinkinder bei gefährlichen Spielen (z.B. Mikado), Beschäftigungen (z.B. Schneiden mit Schere), Aktivitäten (z.B. Erlernen des Umgangs mit Messer und Gabel bei den Mahlzeiten) oder Betätigungen (z.B. Klettern auf einem hohen Klettergerüst) mehr beaufsichtigt werden müssen als wenn sie beispielsweise friedlich im Sandkasten spielen oder konzentriert Bilder malen.

(4) Situative Faktoren: Auch die jeweilige Situation in der Gruppe und der Interaktionsverlauf zwischen Kindern sind zu beachten. Beispielsweise sind erhöhte Anforderungen an die Aufsichtsausübung zu stellen, wenn die Kindergruppe besonders aufgedreht und aggressiv ist ("Montagssyndrom") oder sich gerade ein Streit zwischen mehreren Kindern anbahnt.

(5) Räumliche und örtliche Gegebenheiten: Ein Mehr an Aufsicht ist nötig, wenn es in den Innen- oder Außenräumen des Kindergartens besondere Gefahrenquellen gibt (z.B. brennende Kerzen, Arbeiten an der Elektroinstallation, kaputtes Spielgerät im Garten). Dasselbe gilt für den Fall, dass die Kindergruppe die Einrichtung verlässt und mit Gefahren wie Straßenverkehr, ungesichertem Bachlauf, Baustellen usw. konfrontiert wird.

(6) Person der Fachkraft: Die Erzieherin muss ihre eigenen Fähigkeiten und Berufserfahrungen berücksichtigen. Beispielsweise wird von einer Berufsanfängerin ein eher übervorsichtiges Verhalten erwartet, darf eine Nichtschwimmerin nicht die Kinder bei einem Schwimmbadbesuch beaufsichtigen, muss sich eine gehbehinderte Erzieherin mehr in der Nähe der Kinder aufhalten, damit sie bei Gefahr schnell genug eingreifen kann.

(7) Zumutbarkeit der an die Fachkraft gestellten Anforderungen: Beispielsweise darf von einer Berufsanfängerin nicht dasselbe verlangt werden wie von einer erfahrenen Fachkraft. Eine Erzieherin darf nicht überfordert werden, indem von ihr verlangt wird, auf Dauer eine zu große Gruppe oder in gefährlichen Situationen zu viele Kinder zu betreuen. Auch dürfen die Anforderungen nicht vernünftigen pädagogischen Erwägungen zuwiderlaufen.

(8) Gruppengröße: "Der haftungsrechtlichen Rechtsprechung und Praxis kann man keine generelle, einigermaßen definitive Antwort entnehmen. Nur zur Aufsicht bei Ausflügen, Wanderungen, Besichtigungen und anderen externen Unternehmungen hat sich die Relation zehn Kinder auf eine sozialpädagogische Fachkraft (beim Schimmbadbesuch auch zehn auf zwei) als einigermaßen gesicherte Richtzahl herausgebildet" (Schmitt-Wenkebach 1994, S. 23). Auf jeden Fall sollte die Gruppengröße auf Dauer nicht gegen die jeweiligen Landesrichtlinien verstoßen. Generell ist es aber einer Fachkraft zumutbar, für kürzere oder längere Zeit die Kinder einer anderen Gruppe mitzubetreuen. Es wird dann von ihr erwartet, dass sie z.B. auf risikoreiche Aktivitäten verzichtet und rigoroser Aufsicht führt.

Deutlich wird, dass die Aufsichtspflicht keine Dauerbeobachtung und ständige Verhaltenskontrolle der Kinder verlangt. Auch sollen Gefahren und Risiken nicht von ihnen ferngehalten werden - sofern diese von ihrem Entwicklungsstand und ihren Fähigkeiten her mit ihnen umgehen können. Schließlich gehört es auch zum Auftrag des Kindergartens, Kinder zu einem kompetenten Hantieren mit Schere, Messer, Gabel, Hammer u.a. sowie zu einem verantwortungsbewussten Handeln in gefährlichen Situationen zu erziehen. Kinder sollen schrittweise an Gefahren herangeführt werden und das richtige Verhalten möglichst selbständig erlernen, also ohne Eingreifen der Erzieherin.

Nach Münder (1991, S. 102) ist die Aufsichtspflicht "nur Nebenpflicht, vorrangig ist die Erziehung der Minderjährigen zur Selbständigkeit und Mündigkeit". Von zentraler Bedeutung sind hier § 1 Abs. 1 SGB VIII (= Kinder- und Jugendhilfegesetz, KJHG) - auch als Ausfluss von Artikel 2 Abs. 1 GG (= Grundgesetz) - und § 9 Nr. 2 SGB VIII. Kinder haben ein Recht auf Erziehung zu Selbständigkeit und Eigenverantwortung, auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit. Das verbietet Bevormundung, Gängelei und fortwährende Kontrolle.

 § 1 Abs. 1 SGB VIII

Jeder junge Mensch hat ein Recht auf Förderung seiner Entwicklung und auf Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit.

§ 9 Nr. 2 SGB VIII

Bei der Ausgestaltung der Leistungen und der Erfüllung der Aufgaben sind ...

2. die wachsende Fähigkeit und das wachsende Bedürfnis des Kindes oder des Jugendlichen zu selbständigem, verantwortungsbewusstem Handeln ... zu berücksichtigen, ...

Artikel 2 Abs. 1 GG

Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, so weit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt.

Die kindliche Entwicklung, der Erziehungsprozess und die pädagogischen Aktivitäten sollten also immer im Vordergrund stehen; Aufsichtsaspekte dürfen nur Korrektive sein: "Das Recht kann und soll nicht pädagogische Inhalte bestimmen, sondern nur die Grenzen erzieherischer Gestaltungsräume aufzeigen, deren Überschreitung nicht mehr mit den berechtigten Schutzinteressen des Kindes oder der Allgemeinheit zu vereinbaren sind" (Sahliger 1994, S. 8).

Formen der Aufsichtsführung

Dem Vorrang der Erziehung kommt entgegen, dass es unterschiedlich intensive Formen der Aufsichtsführung gibt. Die sozialpädagogische Fachkraft muss also nur dasjenige Mittel ergreifen, das vor dem Hintergrund der gerade beschriebenen Kriterien von seiner Einflussstärke her der jeweiligen Situation entspricht. Sie kann wählen zwischen:

(1) Informieren, Belehren, Ermahnen: Die Erzieherin muss die Kinder über mögliche Gefahren und deren Verhinderung klar und verständlich informieren, zum richtigen Umgang mit gefährlichen Objekten anleiten und Verhaltensweisen lehren, mit denen risikoreiche Situationen (z.B. im Straßenverkehr) gemeistert werden können. Sie muss sich vergewissern, ob sie verstanden wurde. Wichtig ist auch das eigene Vorbild.

(2) Ge- und Verbote: Ein exakt umschriebenes Verhalten wird verlangt bzw. untersagt. Dies ist z.B. notwendig, wenn Kinder Belehrungen und Warnungen nicht beachtet haben, wenn sie zu wenig Einsicht zeigen, wenn sie bestimmte Verhaltensweisen noch nicht beherrrschen oder wenn der Schadenseintritt sehr wahrscheinlich ist. Verbote sollten eher selten aufgestellt werden, da sie die Entwicklung von Selbständigkeit und Verantwortungsbewusstsein erschweren.

(3) Überwachen, Kontrollieren: Auch Kleinkinder müssen nicht auf Schritt und Tritt beobachtet werden; dies ist weder der Erzieherin zumutbar noch pädagogisch zulässig. Die Fachkraft muss sich also nicht ständig im Raum bzw. in der Nähe der Kinder aufhalten oder fortwährend in Blickkontakt bleiben. Zumeist reicht ein relativ häufiges, stichprobenartiges Kontrollieren. Entsprechend der vorgenannten Kriterien sind aber intensivere Überwachung und Kontrolle von (einzelnen) Kindern notwendig, wenn diese sich z.B. an frühere Belehrungen und Verbote nicht gehalten haben, mit gefährlichen Objekten spielen oder sich in einer risikoreichen Situation (Klettern, Straßenverkehr usw.) befinden.

(4) Eingreifen: Ist ein Kind oder eine dritte Person gefährdet bzw. ist ein Sachschaden zu erwarten, dann muss die Erzieherin verbal oder auch unter körperlichem Einsatz eingreifen und die Gefahrenquelle entfernen (z.B. durch Wegnehmen, Verschließen, Abbrechen des Spiels, Trennen sich prügelnder Kinder).

Hundmeyer (1995 a) fasst zusammen: "Einem Erzieher kann nicht begründet der Vorwurf der Aufsichtspflichtverletzung gemacht werden, falls er sich über die persönliche Verfassung des Kindes und über die sonstigen Umstände, die für die Aufsichtsführung Bedeutung haben, informiert, das Kind in einer seinem Alter und seiner Entwicklung gemäßen Weise auf mögliche Gefahren aufmerksam macht, es vor falschem Verhalten warnt und sich vergewissert, dass das Kind seine Warnungen und Ermahnungen verstanden hat und befolgt. Schließlich muss er das Kind in einer Weise überwachen, wie dies einem verständigen Aufsichtspflichtigen unter Abwägung pädagogischer Zielsetzungen und Risiken für das Kind und andere vernünftigerweise zugemutet werden kann. Notfalls muss er zum Schutz des Kindes und anderer auch eingreifen" (S. 26).

Beginn und Ende der Aufsichtspflicht

Prinzipiell können Beginn und Ende der Aufsichtspflicht im Aufnahmevertrag, in der Kindergartenordnung oder einer gesonderten Vereinbarung festgelegt werden. Ist dies nicht geschehen, gilt das, was stillschweigend zwischen Kindergarten und Eltern aus der Sicht eines objektiven Dritten - der Allgemeinheit - als vereinbart angesehen werden kann. Dies kann ab Betreten bzw. Verlassen des Kindergartengrundstücks, des Gebäudes oder des Flurs/des Vorraumes zum Gruppenraum (Letzteres insbesondere bei größeren Einrichtungen mit mehreren Gruppen) sein.

Kinder, die vor Beginn der offiziellen Öffnungszeit in den Kindergarten kommen oder gebracht werden, stehen noch nicht unter der Aufsicht der Fachkräfte. Werden sie von den Eltern einfach vor der verschlossenen Kindergartentür abgestellt, verletzen diese möglicherweise ihre Aufsichtspflicht. Sind Mitarbeiterinnen dann schon anwesend und äußere Umstände wie das Verkehrsgeschehen oder die Witterungsverhältnisse Gefahr bringend, wird jedoch erwartet, dass sie das Kind schon vorzeitig in ihre Obhut nehmen.

Generell endet die Aufsichtspflicht mit der Übergabe des Kindes an die Personensorgeberechtigten (Eltern). Sie tritt nicht wieder ein, wenn der Abholer z.B. das Kind noch auf dem Kindergartengelände (unbeaufsichtigt) spielen lässt, selbst wenn dies während der Öffnungszeit der Fall ist. Die Eltern können auch eine dritte Person beauftragen, das Kind zu bringen oder abzuholen, wobei deren Berechtigung vorab dem Kindergartenpersonal mitgeteilt werden sollte. Handelt es sich um einen Geschwisterteil bzw. Minderjährigen, sollten sich die Fachkräfte von seiner Eignung überzeugen. Generell darf das Kind einem Elternteil oder sonstigen Abholer nicht überlassen werden, wenn ihm von diesem Gefahr droht (z.B. bei Trunkenheit). Dann sollte der andere Elternteil bzw. die Eltern, notfalls das Jugendamt oder die Polizei, eingeschaltet werden. Droht der Abholer mit Gewaltanwendung, muss sich das Kindergartenpersonal aber nicht dieser Gefahr aussetzen. Dasselbe gilt übrigens auch, wenn ein nicht sorgeberechtiger (getrennt lebender, geschiedener) Elternteil das Kind zu entführen versucht. Ansonsten kann ein getrennt lebender Elternteil dem Kindergartenpersonal nicht verbieten, das Kind dem anderen Elternteil mitzugeben - sofern das Familiengericht keine entsprechende vorläufige Entscheidung über die Ausübung der elterlichen Sorge getroffen hat.

Wird ein Kind nicht rechtzeitig abgeholt, verletzen die Eltern ihre vertraglichen Pflichten. Der Kindergarten muss in diesem Fall aber weiterhin die Beaufsichtigung des Kindes übernehmen bzw. sicherstellen. Die Erzieherin sollte zunächst versuchen, die Eltern bzw. den üblichen Abholer telefonisch zu erreichen. Gelingt dies nicht und kann keine Fachkraft noch länger in der Einrichtung bleiben, kann das Kind in die Obhut des Hausmeisters oder der Putzfrau übergeben werden, sofern diese die Verantwortung übernehmen wollen. Alternativ kann es von einer Erzieherin mit nach Hause genommen oder einer anderen, dem Kind bekannten Mutter mitgegeben werden. Schließlich kann es zur Wohnung seiner Eltern gebracht und z.B. bei einer Nachbarin abgegeben werden; es darf aber nicht unbeaufsichtigt vor der Wohnungstür zurückgelassen werden. In jedem dieser Fälle muss eine entsprechende Notiz für die Eltern an der Kindergartentür angebracht werden.

Konsequenzen der Aufsichtspflichtverletzung

Aufsichtspflichtverletzungen können strafrechtliche, zivilrechtliche und/oder arbeitsrechtliche Folgen haben. Die Verletzung der Aufsichtspflicht an sich ist nicht strafbar. Nur wenn deswegen ein Kind oder ein Dritter (schwer) verletzt oder gar getötet wurde, wird in der Regel eine Ermittlung durchgeführt - und zwar grundsätzlich unabhängig davon, ob der Verletzte bzw. die Verwandten des Getöteten ein Interesse an einer Bestrafung des Täters haben. Dann muss die Staatsanwaltschaft der Erzieherin eine (grob) fahrlässige oder vorsätzliche Verletzung ihrer Aufsichtspflicht nachweisen. Strafrechtliche Verfahren mit rechtskräftiger Verurteilung der Fachkraft sind sehr selten.

Zivilgerichte werden hingegen nicht von sich aus tätig, sondern müssen von den Geschädigten bzw. deren gesetzlichen Vertretern angerufen werden. Dies kann zum einen nach § 823 BGB der Fall sein, wenn ein Kind selbst einen Schaden erleidet - wobei die Verletzungshandlung der Erzieherin in einem Unterlassen der notwendigen Aufsicht besteht -, oder zum anderen nach § 832 BGB, wenn ein Kind aufgrund mangelnder Beaufsichtigung einem Dritten einen Schaden zufügt. Die Fachkraft haftet für den eingetretenen Schaden - ein Kind unter sieben Jahren haftet nach § 828 Abs. 1 BGB übrigens nie -, wenn die Aufsichtspflichtverletzung vorsätzlich oder (grob) fahrlässig erfolgte. Fahrlässigkeit ist gegeben, "wenn eine andere, ausreichend ausgebildete, entsprechend erfahrene Kollegin bei Anspannung der gebotenen und ihr in dieser Situation auch möglichen Aufmerksamkeit anders gehandelt und den schädigenden Erfolg vermieden hätte" (Münder 1991, S. 106). Im Gegensatz zu strafrechtlichen Verfahren muss bei zivilrechtlichen der Erzieherin aber die Aufsichtspflichtverletzung nicht nachgewiesen werden. Vielmehr kommt es zu einer Umkehr der Beweislage: Die Fachkraft muss sich selbst entlasten und glaubhaft machen, dass sie ihrer Aufsichtspflicht nachgekommen ist. Durch die Formulierung der entsprechenden Rechtsgrundlage - insbesondere § 832 BGB - hat der Gesetzgeber klargestellt, dass seines Erachtens ein eingetretener Schaden in aller Regel auf unzureichende Aufsichtsführung beruht. Die Fachkraft muss also die Vorannahme entkräften oder nachweisen, dass der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden wäre.

§ 823 BGB

(1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem Anderen zum Ersatze des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalte des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein.

§ 832 BGB

(1) Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit oder wegen ihres geistigen oder körperlichen Zustandes der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatze des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt oder wenn der Schaden auch bei gehöriger Aufsichtsführung entstanden sein würde.

(2) Die gleiche Verantwortlichkeit trifft denjenigen, welcher die Führung der Aufsicht durch Vertrag übernimmt.

Bei einer Aufsichtspflichtverletzung müssen entstandene Personen-, Sach- oder Vermögensschäden wieder gutgemacht und unter Umständen Schmerzensgeldansprüche erfüllt werden. In der Regel werden die Kosten von der gesetzlichen Unfallversicherung oder - sofern vorhanden - der Betriebshaftpflichtversicherung des Trägers bzw. der Berufshaftpflichtversicherung der Erzieherin übernommen - außer die Aufsichtspflichtverletzung erfolgte vorsätzlich oder (dies gilt nur für die gesetzliche Unfallversicherung) grob fahrlässig. Haftpflichtversicherungen übernehmen auch gesetzliche und außergerichtliche Kosten bei Rechtsstreit oder Strafverfahren.

Oft ist aber nicht nur eine Fachkraft verantwortlich: "Waren mehrere Erzieher an der Aufsichtspflichtverletzung beteiligt, haften sie als sog. Gesamtschuldner (§§ 840, 426 BGB). Dies bedeutet, dass jeder dem Geschädigten zum Ersatz des gesamten Schadens verpflichtet ist; allerdings kann der Schadensersatz nur einmal gefordert werden. Hat also von zwei Erziehern einer den gesamten Schadensersatz geleistet, hat der Geschädigte gegen den anderen keinen Anspruch mehr. Im Innenverhältnis sind die Gesamtschuldner untereinander zum Ausgleich verpflichtet" (Sahliger 1994, S. 54).

In machen Fällen haftet auch die Kindergartenleiterin mit, wenn sie gegen ihre Pflichten verstoßen hat - also z.B. wenn sie die Aufsichtsführenden unzureichend eingewiesen, belehrt oder unterstützt hat, oder wenn sie bei offensichtlichem Fehlverhalten derselben nicht eingeschritten ist. Ähnliches gilt für den Träger des Kindergartens: Er haftet mit, wenn er beispielsweise unqualifiziertes Personal einstellt, seine Mitarbeiterinnen ungenügend angeleitet hat oder überwacht, sie z.B. durch auf Dauer zu große Gruppen überfordert oder ihnen relevante Informationen (z.B. über Risiken) nicht gegeben hat. Schließlich haftet der Träger laut §§ 278, 831 BGB grundsätzlich für Pflichtverletzungen seines Personals mit: Insbesondere Schäden, die weder aufgrund einer vorsätzlichen noch einer grob fahrlässigen Aufsichtspflichtverletzung seiner Mitarbeiterinnen entstanden, werden dem Betriebsrisiko des Arbeitgebers zugerechnet und sind von diesem allein zu tragen. "Das Bundesarbeitsgericht hält es nämlich für unbillig, einen Arbeitnehmer in jedem Fall haften zu lassen, wenn dessen Tätigkeit leicht zu derartigen Schäden führen kann oder die Gefahr besteht, dass der verursachte Schaden sehr groß ist und in keinem Verhältnis zum Arbeitseinkommen steht" (Hundmeyer 1995 b, S. 83)

Unabhängig davon, ob ein Schaden eingetreten ist, können Aufsichtspflichtverletzungen auch arbeitsrechtliche Folgen haben. Diese reichen von der formlosen Belehrung über Verweis und Abmahnung bis hin zur ordentlichen und in besonders schwerwiegenden Fällen sogar fristlosen Kündigung. Die Sanktion muss aber in angemessenem Verhältnis zur Schwere der Pflichtverletzung stehen.

Weiterführende Literatur

Groner, F.: Die Aufsichtspflicht gegenüber Kindern und Jugendlichen. Faltblatt. München: Aktion Jugendschutz, Landesarbeitsstelle Bayern e.V., o.J.

Hundmeyer, S.: Aufsichtspflicht in Kindertageseinrichtungen. Rechtlich begründete Antworten auf Fragen der Praxis zur Aufsichtspflicht, Haftung und zum Versicherungsschutz. Kronach: Carl Link, 3. Aufl. 1995 a

Hundmeyer, S.: Recht für Erzieherinnen und Erzieher. München: TR-Verlagsunion, 15. Aufl. 1995 b

Jacobi, V.: Rechtsfragen im Kindergartenalltag. Für Erzieher, Träger, Eltern. Donauwörth: Auer, 6. Aufl. 1993

Münder, J.: Beratung, Betreuung, Erziehung und Recht. Handbuch für Lehre und Praxis. Münster: Votum, 2. Aufl. 1991

Preissing, C./Prott, R.: Rechtshandbuch für Erzieherinnen. Berlin: FIPP-Verlag, 2. Aufl. 1993

Sahliger, U.: Aufsichtspflicht im Kindergarten. Münster: Votum 1994

Schmitt-Wenkebach, R.: Aufsichtspflicht in Tageseinrichtungen für Kinder. Bonn: Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V. 1994

Autor

Dr. Martin R. Textor studierte Pädagogik, Beratung und Sozialarbeit an den Universitäten Würzburg, Albany, N.Y., und Kapstadt. Er arbeitete 20 Jahre lang als wissenschaftlicher Angestellter am Staatsinstitut für Frühpädagogik in München. Von 2006 bis 2018 leitete er zusammen mit seiner Frau das Institut für Pädagogik und Zukunftsforschung (IPZF) in Würzburg. Er ist Autor bzw. Herausgeber von 45 Büchern und hat 770 Fachartikel in Zeitschriften und im Internet veröffentlicht.
Homepage: https://www.ipzf.de
Autobiographie unter http://www.martin-textor.de